Ich sitze am Klavier und spiele vor mich hin – planlos. Meine Partnerin kommt in den Raum und fragt mich etwas. Später klingelt das Telefon – ein Klient möchte einen Beratungstermin. Anschließend setze ich mich wieder an das Klavier und spiele weiter – planlos. Ich fühle mich ausgeglichen und genieße, was passiert.
Am nächsten Tag höre ich im Radio ein geniales Klavierstück von Chopin. Ich bin begeistert und möchte es spielen können. Gleichzeitig fällt mir ein, dass in zwei Wochen ein Freund von mir seinen runden Geburtstag feiert. Das wäre ja die Gelegenheit, dieses Klavierstück vorzuspielen. Ich weiß, dass es knapp wird, doch ich werde es hinbekommen. Gezielt plane ich meine Zeit so effektiv, dass ich in zwei Wochen das Stück beherrsche. Hochmotiviert beginne ich zu üben. Der Gedanke an den Auftritt und das erfreute Gesicht meines Freundes lassen mich selbst schon Vorfreude fühlen. Meine Partnerin kommt in den Raum und fragt mich etwas. Ich fühle mich gestört – so eine banale Frage, damit hätte sie auch warten können! Meine Bitte an sie: mich nicht mehr stören.
Ich übe weiter – das Telefon klingelt. Genervt ergreife ich den Hörer. Ein anderer Klient möchte einen Termin. Ich gebe ihm einen in drei Wochen. Für ihn ist es aber sehr dringend – ob ich nicht noch einen früheren Termin hätte. Bei dem Gedanken gerate ich unter Druck, denn es könnte sein, dass ich das Klavierstück nicht mehr rechtzeitig lerne. Ich bin im Zwiespalt und werde leicht unfreundlich, schaffe es aber, mich zusammenzureißen. Wenn ich jedoch ganz ehrlich wäre: Ich habe absolut keinen Bock, diesem Klienten überhaupt noch zur Verfügung zu stehen. Warum versteht er nicht, dass ich ihm bereits den frühesten möglichen Termin gegeben habe? Warum muss er noch einmal nach einem früheren Termin fragen – und mich dadurch in diesen Zwiespalt bringen, „Nein“ sagen zu müssen?
Ich verallgemeinere: Sobald wir einen Wunsch haben, so entstehen als Folgen automatisch Wertungen. Es gibt nun Dinge oder Situationen, die dem Erreichen unseres Zieles dienen, und andere, die hinderlich sind und uns vom Ziel abhalten oder uns behindern. Diese Unterscheidung ist eine völlig normale und natürliche „Wertung“: Das eine gehört dazu, und das andere nicht. Möchte ich ein Klavierstück spielen, so gibt es Töne, die (zum richtigen Zeitpunkt gespielt) dazugehören, und andere Töne, die nicht dazugehören.
Unsere Probleme entstehen in dem Moment, in dem wir intensiv an einem Ziel festhalten und gleichzeitig etwas anderes uns intensiv daran hindert, das Ziel zu erreichen. Wir beginnen zu kämpfen und nach Lösungen zu suchen. Eine von vielen Lösungen könnte sein, das Ziel loszulassen, den Wunsch in der momentan bestehenden Form wieder aufzugeben. Buddha soll gesagt haben: „Das Begehren ist die Ursache des Leidens.“ Das erscheint in diesem Zusammenhang nun logisch. Sobald in uns ein Wunsch, ein Ziel, ein Begehren existiert, teilt sich für uns ganz automatisch unsere Welt in zwei Pole auf: Es entstehen für uns sowohl Unterstützungen als auch Hindernisse, richtige und falsche Töne. Polarität. Dementsprechend ist das Begehren gleichzeitig auch die Ursache des Glücks, denn manchmal können wir unsere Ziele auch erreichen, spielen die richtigen Töne, erfahren die passende Resonanz und freuen uns darüber. Das Begehren ist sowohl die Ursache des Leidens als auch des Glücks, des Auf und des Abs, kurz: der „Bewegung“. Haben wir keinen Wunsch, kein Ziel, kein Begehren, geben wir also für eine gewisse Zeit all unsere Ziele auf, so verschwinden gleichzeitig jegliche Wertungen und Bewegungen vom Positiven ins Negative oder umgekehrt. Man „ist“ nur noch. „Ich bin“. Und damit ist man auf der Ebene angekommen, die von so vielen Erleuchteten beschrieben werden – die Ebene des einfachen Seins im Jetzt. Diese Ebene ist die Basis, die schon immer vorhanden ist. Wir sind. Alles ist. Auf der Ebene der Existenz ist alles gleich. Hier gibt es keine Wertungen, denn es gibt nichts, das nicht dazugehört.
(Dieses Thema habe ich ausführlicher im Buch „Ich stehe nicht mehr zur Verfügung – Die Folgen“ behandelt)
Autor: Olaf Jacobsen Erschienen in: "Wegweiser" 5/2010, S. 26
"Die Konsequenzen eines jungen Aufstellungsleiters", 2002
"Frei oder geführt?", 2005
"Das Potenzial zur Selbstentfaltung", 2006
"Missverstanden - Das freie Aufstellen ergänzt", 2006
"Frei ist nicht gleich frei", 2007
"Verstrickte Gefühle - Familienstellen hilft", 2007
"Familienprobleme - oft nur Theater?", 2008
"Wünsche wecken Wirkungen und Wertungen", 2010
"Interview mit Olaf Jacobsen - von Ilka Baum", 2011
"Das Potenzial der Freien Systemischen Aufstellungen" - PDF-Datei, 2011